Der Energiemarkt in der Schweiz ist ein recht beständiger, oftmals träger Markt. Doch manchmal ist die Zeitdauer zwischen der Geburt einer Geschäftsidee und deren Umsetzung zum marktfähigen Produkt mitentscheidend für den Erfolg. In unserem Fall sorgt das neue Energiegesetz dafür, dass sich die Regeln für ein neues Geschäftsfeld in kurzer Zeit geklärt haben und neue Möglichkeiten öffnen. Für Energie Wasser Bern (ewb) ist das die Gelegenheit, mit ihrem neuen Produkt so rasch wie möglich auf den Markt zu kommen. Eine Herausforderung für Produktmanagement, Design und Software Engineering.
Herausforderung
Für ewb zeichnete sich schon einige Monate vor dem (damals noch nicht definierten) Projektstart ab, dass aufgrund des neuen Energiegesetzes ein besonderer Effort notwendig sein würde, sobald die Gesetze in Kraft gesetzt sind. Viele Mitbewerber werden auf den neuen Markt der «Eigenverbrauchsgemeinschaften» (EVG) oder «Zusammenschluss zum Eigenverbrauch» (ZEV) drängen und versuchen, rasch an Terrain zu gewinnen. Nebst der kurzen Time-to-Market waren weitere Herausforderungen das neue Geschäftsmodell, die neuen Prozesse und die teilweise neue Technologie. Und schliesslich musste es möglich sein, noch während der Entwicklung Kunden für das neue Produkt zu akquirieren.
Energie Wasser Bern entscheidet sich im November 2017 das Projekt zu starten. Die Marktpräsentation wird auf die 16. Nationale Photovoltaik-Tagung am 19. und 20. April in Bern gelegt.
Projektstart mit Design Sprint
Im November starten wir das Projekt mit einem Design Sprint. ewb nimmt nebst dem Auftraggeber mit drei Experten teil, für die Interviews liefern vier potentielle Kunden aus unterschiedlichen Segmenten wertvolle Inputs und aufschlussreiches Feedback.
Für ewb als Auftraggeber und für Edorex als Dienstleister hat der Design Sprint nur Vorteile: wir können viel Know-how von Experten sammeln, offene Fragen und Annahmen mit potentiellen Kunden und Anwendern klären und somit die Anwendersicht berücksichtigen.
Was nun? Vollbremsung!
Das Schöne am Design Sprint: nach fünf Tagen liegt ein durch Kunden getesteter Prototyp vor. Doch ersetzt der Prototyp zusammen mit den übrigen Ergebnissen aus dem Design Sprint ein klassisches Pflichtenheft?
Auch wenn nach dem Design Sprint für alle Beteiligten klar ist, dass dieses Projekt so rasch wie möglich umgesetzt werden muss: bei vielen Firmen (auch bei ewb) kommt nun der offizielle Beschaffungsprozess zum Einsatz. Auf einmal prallen agile Methoden mit klassischem Wasserfall-Vorgehen aufeinander. Der Einkauf kann nichts anfangen mit priorisiertem Backlog, Prototyp, Storyboard, etc. Er braucht messbare Lieferobjekte, eine verbindliche Preisangabe oder ein Pflichtenheft, um damit eine Ausschreibung oder ein anderes Beschaffungsverfahren durchzuführen. Denn unabhängig davon, wie eng die Termine für ein Projekt gesetzt sind, die Beschaffungsprozesse müssen juristisch korrekt im vorgegebenen Schema abgewickelt werden können. Für das Projekt heisst dies erstmal: Vollbremsung!
Zum Glück liegen nach einem Design Sprint die Lieferergebnisse präzise umschrieben vor. Die zu erwartenden Aufwände können verbindlich geschätzt werden. Damit können die Formalitäten für eine korrekte Beschaffung effizient abgewickelt werden. Unter Umständen muss jedoch eine Ausschreibung durchgeführt werden. In diesem Fall müssen Ausschreibungsunterlagen erstellt werden, welche alle potentiellen Anbieter verstehen und als Basis für ihre Aufwandschätzung verwenden. Aus Projektsicht bedeutet die Ausschreibung im schlechtesten Fall eine Verzögerung von mehreren Monaten – wertvolle Zeit in einem umkämpften Markt, wo jeder Anbieter seine Position sucht. Wer zu spät kommt, kann sich nur noch mit den Krümeln abgeben.
Vollgas…
Nach der Vollbremsung herrscht also Konsternation auf beiden Seiten. Bis klar ist, ob wir mit der Umsetzung starten können, vergehen ein paar Wochen. Der Termin im April rückt näher und näher. Endlich erfolgt die Freigabe im Februar, wir können loslegen.
Innerhalb von wenigen Tagen sind wir bereit: der Produkt Owner – er war beim Design Sprint dabei und kennt die Materie bestens – verbringt von nun an viel Zeit bei unserem Team und steht für Fragen, Auskünfte und Entscheidungen zur Verfügung. Dank den Erkenntnissen aus dem Design Sprint ist das Team extrem schnell bereit und kann mit der Umsetzung loslegen. Die Abnahme der Lieferergebnisse erfolgt laufend nach jedem Sprint. Die Stakeholder bei ewb werden vom PO laufend mit Informationen und dem aktuellen Projektstand versorgt, Rückmeldungen erhalten wir sofort.
…bis zum Ziel!
April ist da, Produkt ist fertig, Ziel erreicht. Bis zum Launch am 19. April sind noch kleinere Arbeiten wie der Aufbau einer zusätzlichen Demo-Umgebung, Marketing- und Präsentationsmaterial und Tests auf den neuen Demo-Geräten zu erledigen.
Dieses Projekt zeigt, dass ein Design Sprint ein Pflichtenheft oder klassische Ausschreibungsunterlagen inhaltlich mehr als ersetzt. Müssen dennoch Ausschreibungsunterlagen erstellt werden, bilden die Ergebnisse des Design Sprints eine hervorragende Quelle. So oder so prallt aber das Vorgehen mit dem Design Sprint und anschliessend agilem Projektvorgehen auf die klassischen Beschaffungs- und Projektabwicklungsprozesse nach dem Wasserfall-Modell. Viel wertvolle Zeit würde verstreichen, die ursprüngliche, gute und durch Anwender getestete Idee verwässert und verschleppt, wenn nach dem Design Sprint auf das Wasserfallmodell umgeschwenkt werden müsste.
Organisationen mit klassischem Wasserfall-Vorgenen, die einem verstärkten Wettbewerb ausgesetzt sind oder sein werden und auf die rasche Umsetzung von innovativen Geschäftsideen angewiesen sind, müssen somit umdenken und neue Vehikel in der Projektabwicklung prüfen. Projekte mit einem Design Sprint zu starten und so rasch wie möglich mit der agilen Umsetzung zu starten, ist jedenfalls eine gute und erfolgversprechende Idee.