8. Aug 2024

Beat Muster

Leiter Marketing & New Business

Die Versprechen der Industrie lassen aufhorchen: «The fastest way to build apps. Empower your team to work faster and more confidently than ever before.» beispielsweise oder «Build A Mobile App For Your Business — No Coding Required». Was liegt also näher, als beim nächsten Projekt auf professionelle Unterstützung in Form von Software-Engineers zu verzichten und einfach mal mit einem No-Code- oder Low-Code-Tool loszulegen? Ich habe dieses Experiment im Rahmen einer konkreten Anfrage gemacht. Hier die Erfahrungen aus Sicht eines Dummies :wink:

Kürzlich hat mich ein Bekannter gefragt, ob ich ihm für seine Einzelfirma (er restauriert alte Autos) eine App empfehlen kann, mit «so einer Art Kalender wo er seine Projekte planen kann». Nun, Kalender gibt es wie Sand am Meer, also nimm eine und teste mal, war meine Antwort.

Wie erwartet – oder befürchtet – reicht das nicht, da steckt noch viel mehr dahinter. Schliesslich ist der «Kalender» auf eine kleine Auftragsverwaltung angewachsen:

  • Firmen (Lieferanten, Kunden, Partner) verwalten

  • Personen verwalten, Zuordnung zu Firmen. Später für Marketing verwenden, beispielsweise für Newsletter-Versand.

  • Projekte verwalten

    • Projekte am liebsten so auf einem «Board zum Rumschieben» und im Kalender darstellen

    • Fotos und Dokumente pro Projekt. Fotos direkt via Smartphone-Kamera im Projekt speichern.

    • Arbeitszeiterfassung auf Projekte

    • Materialerfassung auf Projekte

  • Projekt- und Kundendaten sind Grundlage für Rechnungen, die kommen aber später

  • ah ja, ein Projekte sollte übrigens einem Mitarbeiter zugeordnet werden können. Wenn der Kollege mitarbeitet.

  • Momentan zwei Bearbeiter, weitere können dazukommen.

  • Verwendung primär auf Smartphone in der Werkstatt und auf dem PC im Büro.

Auswahl des geeigneten No-Code- oder Low-Code-Tools

Bei Edorex haben durch das eine oder andere Experiment und viele Design Sprints mit etlichen Kunden eine Liste mit möglichen No-Code- und Low-Code-Tools, welche als Basis für die Umsetzung der oben beschriebenen Anforderungen verwendet werden können. Die Liste ist recht lang, und viele Leser:innen dieses Beitrags haben bestimmt mindestens eine No-Code- oder Low-Code-Plattform im Kopf, die hier passen würde.

In meinem Fall soll das Tool für Mobile und PC geeignet sein, Einsatzzweck ist für die interne Administration. Also keine Publikums-App. Es müssen einige Entitäten verwaltet werden können, die Daten werden später weiterverwendet, beispielsweise für Rechnungen und für Marketing (Mail, Newsletter).

Aus obigen Gründen entscheide ich mich schliesslich für Airtable. Ich habe damit schon ein paar Sachen gemacht. Ich möchte die Gratisversion nutzen, da mein Bekannter auch nichts dafür ausgeben will. Airtable ist als Free-Version erhältlich, allerdings limitiert auf 1’000 Datensätze pro Base und mit stark eingeschränktem Funktionsumfang. Momentan sollte das hoffentlich reichen. Die Bezahl-Versionen kosten dann pro User und Monat, je nach gewünschtem Funktionsumfang.

Datenmodellierung als Basis

Airtable basiert auf Tables. Allerdings nicht auf Tables im Spreadsheet-Style, sondern im Sinne einer Datenbank. Für mich mit ein paar Jährchen IT-Background fühlt sich das prima an. In ERD oder Domain Models denken, Tables anlegen, Relationen abbilden – super. Direkt in der Editoren-Ansicht kann mit echten Daten rumgespielt werden, das Modell nimmt sehr schnell Gestalt an. Berechnungen direkt in den Tables sind einfach zu bewerkstelligen, ein Formeleditor ist vorhanden, die Syntax orientiert sich an Excel oder eher SQL.

Was ebenfalls an Relationale DBs erinnert, sind die Automatisierungen. Etwa das selbe wie Trigger. Das Coole dabei: Automations werden unter einem eigenen User ausgeführt, damit siehst du bei jedem Objekt, wenn es durch eine Automatisierung erstellt oder geändert wurde.

Im Falle meiner Auftragsverwaltung ergeben sich so ein paar eigene Entitäten – System-eigene Entitäten sind in jeder Table referenzierbar (User, Dokumente, etc.). Pro Entität können verschiedene Ansichten erstellt werden, die Gratis-Version ist hier jedoch eingeschränkt. Und aus meiner Sicht eignet sich die so genannte «Base»-Ansicht nur bedingt für die Enduser. Es muss also ein anständiges Front-End her.

Front-End für PC und Mobil

Bisher hat alles wie am Schnürchen geklappt. Doch mit dem Front-End kommt eventuell die erste Hürde. Es ist nicht auf den ersten Blick klar, wie ich basierend auf der Base ein Front-End — im besten Fall als Dummy zusammen klicken – kann. Die Beispiele sind nicht sehr aussagekräftig und verweisen oft auf die Bezahl-Versionen.

Schliesslich erschliesst sich hier die Idee: das oder die Front-Ends (es sind viele verschiedene möglich pro Base) heissen bei Airtable «Interface». Die Grundansicht ist altbekannt: im linken Balken die Navigation, rechts die Inhalte. Auf Mobile ist die Navigation im Hamburger-Menü. Ich erstelle eine Übersicht mit der Auflistung aller wichtigen Objekte Firma, Kunde (Person), Projekt. Zudem je eine Ansicht für die Erfassung der Objekte, ich will ja die User von der Base-Ansicht abhalten. Als Startansicht dient das Kanban-Board, in welchem sich die Objekte direkt verschieben und inline editieren lassen. Apropos Editieren: im Interface kann sowohl auf Objekt- wie auch Attribut-Ebene festgelegt werden, ob nur lesen oder auch editieren erlaubt ist.

Eine sehr wichtige Funktion für die Benutzer in der Werkstatt ist die Foto-Integration via Smartphone. Wenn ein defektes Teil durch eine Neuanfertigung ersetzt werden muss, wird das Massband oder der Massstab hingelegt und einfach jedes Mass abfotografiert. Diese Fotos müssen direkt im Projekt abgelegt werden, kein Umweg über Upload oder so – das wäre schon viel zu viel Aufwand und in der Werkstatt nicht machbar.
Dafür gibt es in der Mobile-Ansicht die nahtlose Integration der Smartphone-Kamera. Gemachte Fotos werden direkt in die Base hochgeladen und gesichert. Gut gemacht.

Anwendung verteilen und Berechtigungssteuerung

Airtable wird auf dem PC via den Browser verwendet, auf Mobile ist die Airtable-App notwendig. Die Berechtigungssteuerung lässt in der Gratis-Version vier Berechtigungsstufen zu:

  • Ersteller, hat vollen (Entwickler-)Zugriff auf die Base
  • Bearbeiter, kann Datensätze bearbeiten und für sich Ansichten erstellen
  • Kommentator, kann Kommentare zu Datensätzen erstellen
  • Schreibgeschützt, kann nur lesen

In den kostenpflichtigen Versionen können eigene Benutzergruppen erstellt werden um die Freigabe von Anwendungen zu vereinfachen. Sollen Daten bei grösseren Usergruppen eingeholt werden, kann mit entsprechenden Formularen gearbeitet werden, die ohne Airtable-Login funktionieren, was auch für Umfragen oder spontane Datensammlungen via Website oder SoMe geeignet ist.

Das Teilen der App erfolgt über Mailadresse oder Link, letzterer kann auf die Domain oder via Passwort eingeschränkt werden. In der Zugriffsverwaltung können Berechtigungen geändert oder entzogen werden.

Datensicherheit und Privatsphäre

Vor dem Einsatz einer No-Code- oder Low-Code-Plattformen für Geschäftsprozesse sollte den Aspekten Datensicherheit und Privatsphäre viel Gewicht beigemessen werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier ein paar Punkte, die bei der Wahl der Plattform beachtet werden sollten:

  • Datenhaltung: Wo (geografisch) und durch wen (in der Regel Cloud-Anbieter) werden die Datenbanken betrieben? Ist die Wahl der geografischen Region möglich und garantiert?
  • Security-Features: sind Features wie konfigurierbare Berechtigungssteuerung, Domain-Einschränkungen, SSO und 2FA, Änderungshistory mit Nachvollziehbarkeit auf Datensatzebene vorhanden?
  • Datenschutz und Compliance: welche Zertifizierungen und Regulatorien zum Datenschutz hat die Plattform erhalten?
  • Externe Überprüfung: wird die Plattform regelmässig einer externen Überprüfung unterzogen?
  • Exportmöglichkeiten: können sämtliche Daten durch einen Export von der Plattform abgezogen werden?
  • etc.

Lieber einmal zu vorsichtig sein, als dann einen grossen Reputationsschaden reparieren müssen. Bestehen berechtigte Zweifel an einer No-Code- oder Low-Code-Plattform in dieser Hinsicht, lasse ich lieber die Finger davon und halte nach einer besseren Alternative Ausschau.

Fazit

Für das Erstellen der Anwendung vom ersten Interview bis zur Fertigstellung der letzten Ansichten, Tests, Korrekturen und Anpassungen habe ich wenige Tage benötigt. Geholfen hat dabei sicher mein IT-Background und dass ich das Tool schon gekannt habe. Und auch wichtig: die Anforderungen sind überschaubar und frei von Überraschungen.

Die Eignung einer No-Code- oder Low-Code-Plattform (im Beispiel Airtable) für die rasche Entwicklung einer App für die Prozessautomatisierung oder die Abwicklung von überschaubaren Geschäftsanforderungen ist gut, wenn auch die Versprechen der Anbieter etwas gar überzogen sind. Denn der springende Punkt ist, dass der oder die «Entwicklerin» einer derartigen App zwar keine Programmierkenntnisse haben muss. Sie oder er  muss aber die Fähigkeit haben, Kundenanforderungen aufzunehmen, zu verstehen und so zu abstrahieren, dass daraus eine gut funktionierende, ausbaufähige und zuverlässige Anwendung gebaut werden kann.

Gut eignen sich No-Code und Low-Code-Plattformen besonders dann, wenn eine Lösung erst ausgetestet werden muss. So können unterschiedliche Lösungsansätze ausprobiert werden, welche sich beispielsweise die gleiche Datenbasis teilen, aber ein unterschiedliches Front-End aufweisen. Perfekt ist zudem der Einsatz überall dort, wo eine Geschäftsidee bei einer definierten Zielgruppe über einen längeren Zeitraum einem Markttest unterzogen werden soll.

zum Blog

Kontakt aufnehmen